Das Wunder bestaunen
Es gibt eine Menge vernünftiger Gründe dafür, dass der Erhalt der Biodiversität eines der dringendsten und wichtigsten Ziele der Weltgemeinschaft sein muss. So unersetzlich diese Gründe auch in kontroversen Umweltdebatten sind: Das Herz rühren sie nicht an. Das kann nur eine sehr intime Schöpfungsspiritualität, wie sie die Enzyklika Laudato si von Papst Franziskus entwirft. Diese erkennt in der Vielfalt der Schöpfung ein Bild des vielfältigen, unendlichen Schöpfergottes: Gott ist aus sich heraus und in sich selbst hinein überfließendes Leben, sich selbst überschreitende und doch immer bei sich selbst bleibende Liebe.
Diese unbegreifliche Fülle göttlichen Lebens und Liebens spiegelt sich in der überschäumenden Kreativität der Geschöpfe wider. In ihnen wird sie dem Menschen fassbar und erfahrbar. „Deshalb müssen wir die Verschiedenheit der Dinge in ihren vielfältigen Beziehungen wahrnehmen. Man versteht also die Bedeutung und den Sinn irgendeines Geschöpfes besser, wenn man es in der Gesamtheit des Planes Gottes betrachtet. … Die gegenseitige Abhängigkeit der Geschöpfe ist gottgewollt. Die Sonne und der Mond, die Zeder und die Feldblume, der Adler und der Sperling – all die unzähligen Verschiedenheiten und Ungleichheiten besagen, dass kein Geschöpf sich selbst genügt, dass die Geschöpfe nur in Abhängigkeit voneinander existieren, um sich im Dienst aneinander gegenseitig zu ergänzen.“ (Laudato si Nr. 86)
„Die Gebirge haben Höhenzüge, sind reichhaltig, weit, schön, reizvoll, blumenübersät und dufterfüllt. Diese Gebirge – das ist mein Geliebter für mich. Die abgelegenen Täler sind ruhig, lieblich, kühl, schattig, voll süßer Gewässer; mit der Vielfalt ihres Baumbewuchses und dem zarten Gesang der Vögel verschaffen sie dem Reich der Sinne tiefe Erholung und Wonne und bieten in ihrer Einsamkeit und Stille Erfrischung und Ruhe. Diese Täler – das ist mein Geliebter für mich.“ (Laudato si Nr. 234, den Mystiker Johannes vom Kreuz zitierend).
Vielfalt übersteigt jeden messbaren Wert, weil Gott selbst Vielfalt ist. Seine Liebe lässt sich nicht in Werten beziffern, denn Liebe ist gerade das nicht Fassbare, Messbare, Berechenbare. Gleichwohl ersetzt diese spirituelle Tiefensicht der Liebe nicht die rationale Argumentation mit messbaren Werten, sondern ergänzt und vertieft sie: Selbst wenn es Lebewesen gäbe, die keinerlei erkennbaren Nutzen hätten, dürften wir sie nicht einfach vernichten.
(Michael Rosenberger)