Den Charakter des Weines schmecken
Im Alten Testament ist der Wein der Inbegriff von Freude und Lebensqualität. „Du lässt Pflanzen wachsen für den Menschen, die er anbaut, damit er Brot gewinnt von der Erde und Wein, der das Herz des Menschen erfreut, damit sein Gesicht von Öl erglänzt und Brot das Menschenherz stärkt.“ (Ps 104,14-15) Brot, Wein und Öl werden hier wie an vielen Stellen der Bibel als die wichtigsten und im Übrigen allesamt pflanzlichen Nahrungsmittel dargestellt. Im gesamten Mittelmeerraum galten sie als die bedeutendsten Kulturgüter der Antike. Denn ihre Herstellung geschieht in vielen aufwändigen Arbeitsschritten. Brot ist dabei das Grundnahrungsmittel und dient vorwiegend der Stärkung. Olivenöl hat zahlreiche gesundheitliche Wirkungen und kann als Kosmetikum die Haut des Menschen pflegen, so dass „sein Gesicht von Öl erglänzt“. Wein schließlich dient uneingeschränkt der Freude und Gemeinschaft. Genau diese Freude am gemeinsamen Weintrinken ist den Gegnern Jesu ein derart großes Ärgernis, dass sie Jesus als „Weinsäufer“ beschimpfen (Lk 7,34). Er aber sieht in dieser Bezeichnung ein Kompliment und lehnt sie nicht ab.
„Der Boden prägt den Charakter des Weins“, sagen die Franzosen. Ob hier aber nur der Boden im Sinne der nährenden und Halt gebenden Grundlage gemeint ist? Wird der Charakter des Weines nicht ebenso vom Wetterverlauf zwischen dem Austreiben der Reben und dem Ernten der Trauben bestimmt? Sonne, Wind und Regen sorgen dafür, dass auch am selben Standort und derselben Rebsorte ein Jahrgang nicht dem anderen gleicht.
Wer Wein verkostet, nimmt also Boden und Wetter gleichermaßen wahr. Und dies mit allen Sinnen – weswegen sich über die Jahrhunderte eine umfassende Kultur des Weingenusses entwickelt hat: Erst schauen, dann die „Blume“ riechen, dann den Wein hörbar schlürfen und über die Zunge spielen lassen, ihn kauen und schlucken, schmecken und spüren – Wein zu verkosten erfordert alle Sinne. Genießer erkennen die ganz spezifische Herkunft, das Charakteristische aus dem Zusammenspiel von Sonne, Wind, Regen, Bodenleben, Geologie, Düngung und Rebe mit der Weinbaukunst. – Wer den Wein genießen kann, weiß den Himmel zu schmecken.
(Michael Rosenberger)