Durch Rhythmen frei werden
In der Vormoderne waren die tragenden naturalen Rhythmen von Tag und Nacht sowie von Sommer und Winter unüberwindliche Grenzen des menschlichen Umgangs mit der Zeit. Der Mensch hatte sich ihnen in seiner Lebensgestaltung zu fügen. Aber auch der eher indirekt von der Natur abhängige Wochenrhythmus (vier Wochen entsprechen einem Mondzyklus) prägte unhinterfragt das gesellschaftliche Leben. So war es eingebettet in diese gleichförmig wiederkehrenden Zyklen. Erst mit der Technisierung wurde es möglich, die Rhythmen aufzugeben. Dies wurde zunächst im Bereich der Erwerbsarbeit vollzogen. Schichtarbeit sowie gleitende Vier-Tage-Wochen oder andere „flexible” Arbeitszeitmodelle sind heute in Großbetrieben weit verbreitet. Aber auch in der Freizeit spielen Rhythmen kaum noch eine Rolle: Die Jugendkultur macht die Nacht zum Tag, Diskos öffnen erst spät am Abend. Und obgleich das Phänomen des Jet-Lag bei Flugreisen hinreichend bekannt ist, wird es in der Realität doch weitgehend ignoriert.
Wenn umgekehrt Rhythmen angenommen werden, schaffen sie wie von selbst freie Zeiträume; sie bremsen Beschleunigungsmechanismen; sie widersetzen sich einer übertriebenen Zeiteffizienz; und sie bewahren vor einer totalen Individualisierung der Zeit. Der Frage unseres Umgangs mit Zeitrhythmen kommt daher herausragende Bedeutung zu.
Die in den letzten Jahrzehnten neu entwickelte biologische Disziplin der Chronobiologie hat gezeigt, wie vielfältig das Leben von Mensch, Tier und Pflanze durch Rhythmen geprägt ist. Endogenetische Zeitprogramme steuern jeden Organismus in Rhythmen, die sich evolutionär durch Umwelteinflüsse ausgebildet haben (insbesondere durch die Zyklen des Tages, des Mondmonats und des Jahres – circadiane, circalunare und circaannuale Rhythmen), nunmehr aber als „innere Uhr” zahllose biologische Funktionen eigenständig regeln. Ob Wach-Schlafrhythmen, Rhythmen der Nahrungsaufnahme oder der Leistungsfähigkeit, schließlich hormonelle und neurophysiologische Rhythmen – auf vielfältige Weise ist das Leben der Organismen rhythmisch strukturiert. Dabei weisen Rhythmen eine gewisse Elastizität auf, sind aber nicht beliebig dehnbar oder verschiebbar.
Aus der Sicht der Schöpfungsspiritualität ist die Beachtung von Rhythmen unabdingbar als Ausdruck der Bejahung der eigenen Geschöpflichkeit. Im Rahmen der Gestaltung unseres Umgangs mit Zeit kommt den Rhythmen gerade in der Postmoderne eine Schlüsselstellung zu: Rhythmen eröffnen dem Menschen Freiräume jenseits des Zwangs zur Zeiteffizienz. Sie definieren per se gewisse Zeitbindungen in Form fester Zeiten der Arbeit und der Erholung, der individuellen Gestaltung und der Begegnung. Sie mäßigen damit aber auch die Beschleunigung der gesellschaftlichen Entwicklungen.
So führt die Beachtung von Rhythmen zu einer Spiritualität der Zeit-Fülle: Rhythmen ermöglichen Gelassenheit, weil der Mensch sich in den gewohnten Rhythmus fallen lassen kann. Sie gewähren sorgloses Genießen, weil „alles seine Zeit hat” (Koh 3). Sie regen an zum aufmerksamen Dasein in der Gegenwart, denn ein Schritt folgt dem anderen. Von daher wird es verständlich, warum die erste Schöpfungserzählung (Gen 1,1 – 2,4a, siehe Station 1) den Rhythmen höchste Aufmerksamkeit widmet: Am ersten, am vierten (dem mittleren) und am siebten (dem letzten) Tag des Schöpfungswerkes geht es um die Rhythmen. Tag und Nacht (symbolisiert durch Licht und Finsternis), Monat und Jahr (repräsentiert durch Mond bzw. Sonne) sowie die Woche (versinnbildlicht im Sabbat) werden an ihnen geschaffen. So macht die Erzählung deutlich, wie stark die rhythmische Ordnung das Leben aller BewohnerInnen des Lebenshauses der Schöpfung bestimmt und prägt.
Ob wir mehr Schöpfung oder mehr Erschöpfung erleben, hängt ganz wesentlich an unserer Gestaltung der Lebensrhythmen.
(Michael Rosenberger)