Zu Atem kommen
Die Grundsatzdiskussion um den Sinn eines wöchentlichen Ruhetags geht mit steter Regelmäßigkeit durchs Land. Ganz abgesehen davon, dass der Schutz der Sonntagsruhe gesetzlich bereits viele Ausnahmen zulässt und von vielen Menschen durch ihr Freizeitverhalten faktisch unterlaufen wird: Viele können mit der Ruhe des siebten (bzw. ersten) Wochentages nichts anfangen – es fehlt weitgehend eine gelebte Ruhetagskultur. Individualisierungstendenzen und der starke Freiheitsdrang fördern zusätzlich die Ablehnung einer Einschränkung, wie sie das Ruhetagsgebot darstellt. Schließlich stellt sich der Ruhetag dem Drang der Wirtschaft nach Expansion und optimaler Ausnutzung sämtlicher Produktionskapazitäten entgegen.
Fünf Texte formulieren im Alten Testament das Sabbatgebot: Ex 20,8-11; 23,12; 34,21; 35,1-3; Dtn 5,12-15. Schon seine häufige Wiederholung und die Einordnung unter die Zehn Gebote zeigen, wie wichtig, aber auch wie umstritten das Gebot war. Umgekehrt verdichten sich in ihm religiöse Grundanschauungen Israels zu einer Weisung, die zum härtesten Kern des biblischen Ethos zu rechnen ist.
Abgesehen von der ältesten Formulierung in Ex 34,21 werden überall die Subjekte des Rechtes auf Sabbatruhe einzeln aufgezählt: Männer, Frauen und Kinder, SklavInnen und Fremde sowie die Nutztiere. Damit sind alle Lebewesen des menschlichen Einflussbereichs in den Schutz des Sabbats einbezogen, besonders diejenigen, die innerhalb einer patriarchalen Gesellschaftsordnung zu den Unterprivilegierten zählten und somit des gesetzlichen Schutzes vorrangig bedurften. Gerade sie sollen vor einer übermäßigen oder gar maßlosen ökonomischen Ausnutzung bewahrt werden und die letzte und tiefste Freiheit von Leistungsdruck und Verzweckung real erfahren. Denn der Sabbat setzt der (land-) wirtschaftlichen Dynamik eine klare Grenze: Sechs Tage Arbeit – ein Tag Ruhe. Insofern ist die Ruhepflicht ein eminent soziales Gebot: Am Sabbat sind alle gleich. Neben den sozial Schwachen werden aber ebenso die Arbeitstiere der landwirtschaftlichen Betriebe unter den Schutz des Sabbat gestellt. Damit überschreitet das Gebot die Grenze der zwischenmenschlichen Beziehungen: Solidarität und Gerechtigkeit gelten nicht nur den Menschen, sondern allen Lebewesen dieser Erde. Die ganze Schöpfung soll die Ruhe genießen.
Den beiden Zielgruppen des Sabbatschutzes entsprechen zwei unmittelbare biblische Begründungen des Gebots:
- Zum einen ist die Respektierung des Sabbat ein Zeichen der Dankbarkeit für die Befreiung Israels aus der Sklaverei Ägyptens (Dtn 5,15). Wer „selbst” einmal unter der Last der Fronarbeit zu leiden hatte, wird in Erinnerung daran gerne und freiwillig denjenigen einen Ruhetag gönnen, die jetzt eine unterprivilegierte Stellung einnehmen. Aus der Dankbarkeit wächst unmittelbar eine soziale Haltung.
- Zum anderen beruft sich das biblische Sabbatgebot auf die erste Schöpfungserzählung (Ex 20,11): In sechs Tagen hat Gott die Welt erschaffen, am siebten Tag ruhte er. Gott hat den Rhythmus von Arbeit und Ruhe also in seine Schöpfung hineingelegt. Ja, der letzte Sinn seines Schöpfungswerkes ist nicht Arbeit und der Kampf ums Überleben, sondern die Möglichkeit, dass alle Lebewesen „zu Atem zu kommen” (Ex 23,1. Leben in Fülle, verstanden als Lebensqualität, ist so Sinn und Zweck des Ruhetages. Der Sabbat ist nicht einfach irgendeiner der sieben Tage, er wird in Gen 1,1-2,4a vielmehr als „Krönung” und Ziel des gesamten Schöpfungswerkes verstanden.
(entnommen aus: Michael Rosenberger, Im Zeichen des Lebensbaums. Ein theologisches Lexikon der christlichen Schöpfungsspiritualität, Würzburg 2001, 2. Auflage 2008)